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Meine Posada das Rendeiras (Herberge der Klöpplerinnen) ist sehr gut organisiert, extrem freundlich (habe sie auch von Michael, meinem Kollegenfreund empfohlen bekommen), und sehr sauber. Für die 14 Appartements der Herberge arbeiten 7 Personen ganztägig, 2 Zimmermädchen putzen, eine gute 1 Stunde an jedem Zimmer, immer wird irgendetwas repariert, ein Architekt ist ständig angestellt und zwischen mehreren solchen Pouseidas unterwegs. In den zwei Wochen, die ich hier bin, ist der Architekt täglich da und arbeitet an den Balkonen, der Küche, etc. Im Gegensatz zu der fehlenden Abwasserreinigung und dem Abfall an den Straßenseiten der Autobahnen könnte die hausinterne Sauberkeit für uns, wo wie verrückt Personal eingespart wird, vorbildlich sein. In meiner Herberge wird unglaublich viel und gut geputzt, ich bekomme immer frische Bettwäsche, wenn sie auch nur ein wenig nach Gebrauch aussieht. Auch innerhalb der Universitätsgebäude wird nicht an Personal gespart, sondern ununterbrochen geputzt und die öffentlichen Toiletten (auch die an den Bushaltestellen reichlich vorhandenen umsonst zugänglichen) sind immer perfekt sauber.

Die Pousada hat mich mit zwei Dingen überrascht, zuerst die Toilettenbrille, die mit einem lauten Puff einsinkt, wenn man sich draufsetzt, offenbar zur Bequemlichkeit, und dann die Dusche: im Duschkopf selbst sitzt ein Durchlauferhitzer für warmes Duschwasser. Ich halte das für recht gefährlich, zumal man schon beim Zulauf die offenen Kabel in grün, weiß und gelb sieht (Schuko-Schutz gibt es hier nicht). Gerade habe ich diesen Duschkopf auf einem Werbeplakat vor einem Supermarkt für Einrichtungen annonciert gesehen, er scheint also ganz aktuell zu sein, und in einem der kleinen Fachgeschäfte in der Stadt sehe ich ihn für 17 Real zum Verkauf.

Das Wetter ist unerwartet kalt und schlecht. Die Durchschnittstemperatur in dieser Zeit (Frühling) sollte zwischen 20 und 30 Grad sein, aber es ist sehr wechselnd zwischen 13 und 24 Grad, bei kräftigem Wind. Das zusammen mit den fremden Bakterien hält mein Immunsystem nicht aus und ich bin erst mal 2 Wochen ordentlich krank. Ein deutscher Student, der hier sein Praktikum macht, meint, das sei normal, er habe 3 Wochen gebraucht, um sich an das Wetter zu gewöhnen. Krankheitshalber beschreibe ich nun Brasilien durch die Brille des Fernsehens.

Jeden Tag zeigen die Nachrichten vier Fälle von Korruption, deren Aufdeckung, und wie die entsprechenden Menschen, unter Decken sich vor dem Fernsehen schützend, in Polizeiautos verbracht werden. Alle Politiker im Wahlkampf nehmen gegen Korruption Stellung, die nicht regierungsbeteiligten gegen die Korruption der Regierung, die Regierungsparteien gegen die Verbrechen in der Wirtschaft. Gestern ist ein GOL-Flugzeug von Manaus gestartet, in Richtung Brasilia, verschwunden. Man sieht die Flugzeuge über den weiten Amazonas-Gewässern mit Mangrovenwäldern nach dem Flugzeug suchen. So sehe ich, wie ein Flug darüber ausgesehen hätte. Später kommt die Nachricht, es sei in Paraguay, noch später abends wird eine Nachricht verbreitet, das Flugzeug sei explodiert, aber bis jetzt gibt es keine gesicherten Nachrichten. Heute, Samstag Morgen, gibt es zwei religiöse Sendungen zugleich, die eine mit einem Massenbeweger in heftigstem Einpeitscherton, die andere zeigt eine Nonne, die sich kleine Steine auf den Boden gelegt hat, auf die sie sich dann kniet und in innerlicher Verzückung betet, wie Leda mit dem Schwan. Nicht dass es so was, z.B. von opus dei in Gang gesetzt, in Köln nicht heute noch gäbe, aber man würde es nicht als beispielgebend öffentlich zeigen, im Gegenteil eher ableugnen.

Ich spreche länger mit Jean-Pierre, einem der Besitzer der Posada das Rendeiras. Wie praktisch alle hier, hat er Migrationshintergrund: die Mutter Französin, der Vater Italiener, sind sie nach dem 2. Weltkrieg hierher gekommen, in das Land der Hoffnung und der Zukunft. Er sagt, dass die Probleme Brasiliens nicht die Zanzare (die Mücken) in Manaus sind, die Malaria, Leishmanien, Dengue-Fieber u.a. übertragen und nach denen ich ihn gefragt hatte, es sind die Politiker. Der Präsident Lula da Silva, ein Linker aus der Arbeiterbewegung, ist nicht nur ihm sehr unsympathisch. Besonders die studierten Doktoren und Professoren wären das Problem, denn sie hätten gelernt, wie man unter der Decke Dinge regelt und sich entsprechend versorgt. Das sieht man tatsächlich jeden Tag mindestens 2-4 mal in den Medien, wie wieder einige Leute in Handschellen, zusammen mit Computern in Polizeiautos verbracht werden, weil sie entweder eine Bank ruiniert haben (in der man in einer anderen Einstellung viele Menschen fassungslos in einer Bankhalle stehen sieht, wo sie kein Geld mehr erhalten), weil sie verdorbene Fische verkauft haben oder weil sie sich sonst der Korruption schuldig gemacht haben. Heute zeigen die Nachrichten eine ganz große Schweinerei der Polizei von Sao Paolo, die sich wohl 100-Realscheine in einer Menge, die sich nur auf großen Lagertransportwägen zeigen lässt, organisiert oder abgezweigt haben. Insoweit funktionieren die Demokratie und die Medien zumindest zuweilen gut, vielleicht liegt es aber nur an der Wahl. Die Wahl am Montag wird nicht nur den Präsidenten, sondern auch die Regierung, das Parlament, die lokalen Provinzregierungen und Gouverneure und noch eine lokale Institution neu etablieren. Mehr als 100 Millionen Menschen werden wählen und die Wahl wird elektronisch sein (auch das sieht man im Fernsehen, Finger, die die „richtige“ Zahlenreihenfolge drücken). Für die 5 zu wählenden Positionen gibt es 2 zweistellige, einen dreistelligen, einen 4-stelligen und einen 5-stelligen Code, der dann je nach Partei variiert. Wie gut das funktionieren wird ist noch offen, angeblich ist Wahlbetrug unmöglich gemacht, aber eine legale Wahlmanipulation ist damit schon klar: es wird viele ungültige Stimmen geben, und auch ein akademischer Beruf hindert nicht die Fehlbenutzung, zumal man die 5 oder 6 Zahlen in 30 Sekunden eingegeben haben muss, danach wird die Wahl ungültig. Entsprechend üben die Leute in meiner Posada schon fleißig, haben alle Zahlen genau aufgeschrieben und prägen sich die Gesichter ein, die auf der linken Seite auf einem kleinen Bildschirm, der zeigt was man wählen kann oder gewählt hat, erscheinen werden, rechts ist das Ziffernquadrat zum Drücken und Bestätigen wie in der Bank. Man kann auch im Internet üben, und vor allem kann man zu jedem Kandidaten auf einer speziellen Wahlseite alle, wirklich alle Informationen über die Kandidaten erhalten. In einer Spalte auf der rechten Seite sind alle Einkommen und Besitztümer aufgelistet, einschließlich des Wertes des Eigenheims. Da kommt schon Beeindruckendes zusammen, auch wenn es in Real ist. Jemand hat an der elektronischen Wahl schon hervorragend verdient, die Firma die die kleinen Wahlkästen produziert hat, wovon laut Jean-Pierre 450.000 gekauft worden sind. Ich hatte sofort vermutet, dass sie regierungsnah sei, denn so wäre das bei uns: der neue e-Pass beispielsweise wurde von Schily durchgepeitscht, um die Herstellerfirma in seinem eigenen Münchner Wahlkreis zu bedienen. (Nun sind wir den Schily zwar los – nichts Besseres ist nachgekommen- , aber nicht den technisch völlig unreifen e-Pass, der bei 70% aller Frauen, 90% aller Alten, 100% aller Randbrillenträger und Peircingträger nicht funktioniert – ich werde also keinesfalls durchkommen, kann mir auch gleich einen Ring durch die Unterlippe machen lassen). Anders hier, nach Jean-Pierre wurde die Wahlmaschine international öffentlich ausgeschrieben und die brasilianische Firma hat gewonnen. Sie sei so gut, dass sie nun überall in Südamerika aber auch anderswo gekauft worden ist, in Paraguay, Uruguay, Chile, Argentinien usw. Nach der Wahl sind die Wahlergebnisse jeder Maschine auf einer CD kryptiert gespeichert, die CDs werden unter Aufsicht gesammelt und in einzelnen Zentren entschlüsselt und die Stimmen gezählt und elektronisch zusammengeführt, genau habe ich Verschlüsselungsvorgänge noch nicht verstanden, insbesondere wie Mehrfachwahlen verhindert werden, wenn die Wahlmaschinen nicht untereinander vernetzt sind, nehme aber an, dass ich sie morgen vorgeführt bekommen werde und beobachten kann; anders als in den USA sei Wahlbetrug praktisch ausgeschlossen. In dem Kontext erklärt er mir auch, dass mithilfe paraguayischer günstiger Computerentwicklungen das Land einen IT-Sprung gemacht hat, sodass praktisch alles mit geringer Zeitverzögerung im Internet öffentlich gemacht wird – das Fernsehen ist nicht mehr das Hauptmedium-, vor allem die negativen Dinge. Das konnte ich selbst beobachten, der oben erwähnte GOL-Unfall war kurz nachdem ich das Fernsehen ausgemacht hatte, um 1.30 aufgeklärt. Das Flugzeug, das von Manaus über Belem und Brasilia nach Rio fliegen sollte, war zwischen Manaus und Belem abgestürzt, weil ein kleineres Flugzeug in seinen Weg gekommen war. Der Autopilot hätte das GOL-Flugzeug nach oben ziehen und das andere nach unten ziehen sollen. Stattdessen reißt offenbar das untere das obere beim Drunterdurchfliegen auf, es fängt an zu brennen und stürzt kurz darauf ab. Der Pilot sei ein sehr erfahrender 44-jähriger Amazonasflieger gewesen und sogar Ausbilder in diesem Bereich. Das Flugzeug war fast neu, erst in diesem Jahr in den Verkehr gekommen, aber zwischen den Flugzeugen hatten die Transponder nicht funktioniert, wodurch die Autopiloten nicht die respektiven Bewegungen nach oben bzw. unten gemacht hatten. Alle 155 Passagiere sind tot. Dem zweiten Flugzeug, es war eine kleinere amerikanische Maschine, war nichts passiert. In jenem saß offenbar ein Korrespondent der NY Times, der wenn ich’s richtig verstanden habe, Kritik an dem Verhalten des Piloten des unverletzten Flugzeugs hatte, dass er nicht händisch auf den kommenden Zusammenstoß reagierte und dass er nicht sofort seinerseits landen wollte. Morgens am nächsten Tag war schon der gesamte Hergang im Internet dokumentiert und GOL hatte die gesamte Totenliste veröffentlicht. Damit vermeiden sie natürlich auch zu viele Telefonanrufe, und das Netz scheint es auszuhalten, jedenfalls hatten wir sofort die Seite geöffnet. Später beginnen die Diskussionen, wer die juristische Verantwortung trägt, ob Boeing verantwortlich gemacht werden kann für das Nichtfunktionieren der Transponder oder ob die Piloten (möglich natürlich nur mehr die des zweiten Flugzeugs, die anderen sind tot) verantwortlich gemacht werden sollen für ihr Nichteingreifen in die Situation, auch ein Disput zwischen den USA und Brasilien. Mir scheint es ein typisches verzwicktes Problem der TA und Technikethik zu sein: soll/darf man sich auf die Technik verlassen, oder muss der Mensch immer die Oberaufsicht nehmen, für beide Ansprüche gibt es Fälle. In der Tat nimmt die Systemprogrammierung bei Airbus den Piloten noch viel mehr Autonomie ab als die Boeing-Technik, was ja beispielsweise das Warschauer Flugzeugunglück in den 90-ern verursacht hat. Noch später erfahre ich, dass die amerikanischen Piloten ihren Transponder nicht eingeschaltet hatten, weshalb die Kommunikation nicht funktionieren konnte. Der für die Flugüberwachung zuständige Mann in der Flugleitstelle, der das Unglück kommen sah, konnte nicht mehr rechtzeitig eingreifen und er erlitt deshalb schon vor dem Unglück einen Schock und konnte nicht reagieren, aber da wäre es ohnedies schon zu spät gewesen. Nun ist eine amerikanische Untersuchungskommission eingesetzt, die die Lage und Verantwortung prüfen soll.

Die oben schon erwähnte Partei 45 ist die in Florianoplis regierende Provinzpartei, die aber nicht den Präsidenten Lula (15) stellt, es ist die Partei mit dem Präsidentenkandidaten Alckmin. Spitzenkandidaten sind das Ehepaar Dario und Rose Berger, sowie ein anderer Verwandter Djalma Berger. Der Nepotismus wird auch durch die auffallend häufigen Söhne, wie Paul Bornhausen jr. oder Cesar Souza jr. Die in Santa Catarina Regierenden zeigen die vielen neuen Häuser, Strassen, Fahrradwege und Brücken, die unter ihrer Ägide gebaut wurden, behaupten sie würden die Korruption bekämpfen (und zeigen zu diesem Behufe den Bau von Gefängnissen und ebenfalls Menschen, die in Handschellen ins Gefängnis verbracht werden). Es ist bestimmt nicht gerade angenehm in so einem Gefängnis zu sein. In einer Sendung sieht man einen Insassen im Interview, hinter großen offenen Gittern, wie man sie aus amerikanischen Western kennt. Jean-Pierre sagt, die Polizei von Florianopolis sei besonders verdorben und schlecht, weil Flo eine Insel ist und kein Austausch stattfindet. Also besser im Straßenverkehr aufpassen!

Unter die Wahlwerbungsspots, aber auch unter die Kochsendungen sind immer wieder kurze Teile unserer Schmachtfetzen eingelegt, für Elise, Mondscheinsonate, das Forellenquintett und die kleine Nachtmusik, Beethoven’s 9. und andere Symphonien, auffallend gern haben sie auch die Carmina Burana, vor allem die letzteren für die Wahlwerbung.

Gemessen an der Bedeutung der Wahl ist die öffentliche Sichtbarkeit derselben verschwindend. Das weil es, wie ich schon vermutet hatte, nun gute Gesetze und Regelungen gegen die öffentliche Werbung und Wahlwerbung gibt. Weiter gute und sehr effektive Gesetze gibt es im kommerziellen Bereich: jedes nicht funktionierende oder sonst beschädigte Produkt, sei es noch so klein, einschließlich frischer Waren, Obst, Gemüse etc. muss im Geschäft zurück genommen werden. Das habe die Produktqualität enorm verbessert. Viele also funktioniert hier sehr gut, nur die politische Selbstreinigung nicht.

Auffallend fesch sind vor allem die männlichen Brasilianer, ein guter Teil von ihnen könnten leicht aktuell gefeierte Filmschauspieler oder Mannequins sein. Aber nicht dass die Frauen nicht gut aussähen, mit immer höchst gepflegten Haaren, meist lang und oft gelockt. In jedem Alter tragen sie nahezu ausnahmslos tief ausgeschnittene T-Shirts. Viel Bauch wird von den jungen Frauen auch gezeigt, mit Lametta-Kaskaden im Nabelpiercing, der Kopf aber wird vom Piercing eher ausgelassen als bei uns. Davon ausgenommen allerdings sind die allgegenwärtigen Zahnklammern, die offenbar die hiesigen Zahnärzte als aktuelle Standardtherapie geben. Die Weltkultur des Tattooing hat auch hier keinen Halt gemacht, oder vielleicht wurde es hier erfunden, denn auf starken Männerarmen findet man ganze Comicstrips, und auch junge Frauen tragen häufig Schulter-, Rücken- oder Arschgeweih, ja manchmal vollständige Armerzählungen.

Das brasilianische Portugiesisch wirkt auf den ersten Ton recht merkwürdig. Es fällt vor allem durch die nasale Aussprache vor allem am Wortende und die Verschleifung der Vokale vom j oder ins i, oder auch das Auslauten auf au, auf. Das macht es eigentlich unvergleichbar mit jeder anderen Sprache die ich kenne, denn die portugiesischen Nasale sind ganz anders und viel mehr als die französischen. Zuerst hatte ich den Klang und die Sprachmelodie in die Nähe des Russischen oder aber auch des Rumänischen (das auch wegen vieler Endungen mit u, wie Schokolatschku) getan. Nun erkenne ich auch die romanischen Elemente, nur sind sie nicht am Wortende. Model wird beispielsweise wie ein nasales mjodielj ausgesprochen – das macht es dem Russischen ähnlich. Dazu gibt es viele dsch, sch und ts, und vor allem die Enden …indschi, iko, itschko, die für uns wiederum einen kindlichen Eindruck ergeben, kommen viel vor. Dazu geht die Sprachmelodie hinauf, langsam mit Betonung hinunter und am Ende wieder hinauf. Das würde im Wienerischen (über das Deutsche allgemein möchte ich da keine Aussagen treffen) einen sich sehr beklagenden Ton bedeuten. Es wird überhaupt mit starker emotionaler Betonung und Gestik gesprochen, oft auch mit ungeheurer Geschwindigkeit, was Letzteres dem ganzen dann einen papageienhaften Zug verleiht. Es gibt (im Fernsehen) richtige Aufheizer, die laut schreiend und mit großem Tempo, Worte immer wiederholend, die Massen in Bewegung bringen. Paradox war einer, der in immer heftigerer Akzeleration calma, calma schrie, es kommt eben weniger auf den Wortinhalt als auf die Sprechweise an. In dieser Sprache kann man, aber auch frau, reden wie ein Maschinengewehrfeuer und tut das auch. Die Sprache form ja auch immer den Mund und das Gesicht, das Portugiesische mit dem engen Rachen für die Nasale und das gerollte r und den sonst eher vorne gesprochenen Konsonanten macht den Mund breit, und die Lippen beweglich und schmal.

Die Durchdringung mit Informationstechnik, zumindest in den Städten, in denen ich war, ist sehr groß. Jean-Pierre meint, dass bis auf die alten Menschen und Analphabeten praktisch jede/r das Internet nutzt, und zwar täglich und für alle Lebensbereiche, allerdings vorwiegend in den rund um die Uhr geöffneten Internetcafes, wo es, anders als bei uns, fast nichts kostet.

Meine Studis gefallen mir sehr gut, sie sind aufgeweckt, offen und intelligent und anders als in D, wo so entsetzlich viel Angst herrscht, trauen sie sich immer zu fragen, auch in der Pause. Auch scheint sie zu interessieren was ich ihnen erzähle. (Sie sind zudem auch ziemlich hübsch.) Einer kommt und fragt mich, warum ich Nietzsche als deutschen Ethiker nicht genannt hätte. Das nächste Mal vergleicht er Habermas’ Diskursethik mit Schopenhauers und Aristoteles’ Ethik. Er, ein Informatiker, hat alles gelesen. Auch ein Kollege kommt in meine Veranstaltung, das würde bei uns auch niemand tun, zu viel Angst, man könne den anderen kontrollieren wollen, etc.

Alle Einwanderungsnationen haben hier ihre Spuren hinterlassen, so auch die Tiroler: immer wieder hört man unsere Jodler, hollaräiti, holaroidi, die neben Bildern, wo junge Leute über Computer springen, zu hören sind, und die älplerischen Ziehharmonikaharmonien, allerdings unterlegt mit Mariacci-Begleitung. Auch die angesagtesten Bahianischen Musiker nutzen oft alpenländische Melodien und Harmonien, auch wenn dies durch andere Instrumente und Schlagzeug recht verfremdet wird.

Kurz vor der Wahl werden einem stündlich die Funktionsweisen der Wahlmaschinen gezeigt, für diese Spots wurde eigens eine gar nicht so schlechte Musik komponiert (vielleicht auch öffentlich ausgeschrieben?), die das 5-malige Klicken in 5 Sekundschritten jeweils mit einem Quartsprung nach oben fürs Klicken simuliert, inzwischen mein Ohrwurm. Heute, 1. Oktober sieht man als erstes den lokalen Gouverneur und den Präsidenten Lula in Sao Paolo mit seiner Familie wählen (das ist nicht so telegen wie das Fallenlassen eines Briefumschlags in einen Schlitz, der Wählende ist versteckt hinter einer Wand, die den Bildschirm schützt und sie muss sich recht bücken, um die Tasten drücken zu können, also sieht man ein paar Beine und einen gebeugten Rücken hinter dem Wahlschirm.) Jed/r muss wählen, Ausnahmen sind nur mit schriftlichen Dokumenten von Arzt o.ä. möglich, die Strafe ist erheblich – die Banken sind angehalten, dann die nächsten Gehälter nicht auszuzahlen, sagt Jean-Pierre, der in einer Bank arbeitet. Vor allem dies lässt mich an der Einhaltung des Datenschutzes etwas zweifeln. Am Wahltag herrscht weitgehend Ruhe, nur in Nähe der Wahllokale sieht man mehr Menschen und vor allem den Boden übersät mit den kleinen Wahlwerbungszetteln, wo die Parteien auf der einen Seite ihre 5 Codenummern bekannt geben, auf der anderen die lokalen Gouverneure. Jean-Pierre hat den Zettel der Partei des Präsidentenkandidaten Alckmein genommen und ändert daran dann 3 der anderen Positionen und nimmt den Zettel mit, um die richtigen Zahlen für die ihm jeweils sympathischsten Parteien einzugeben. Er ging um 8.30 zur Wahl und war da noch allein, konnte in 15 Sekunden eintippen und als er sich umdrehte war das Wahllokal voll mit den Menschen, die aus der Kirche gekommen waren. Um 16 Uhr haben die Wahllokale geschlossen und es war alles vollkommen ruhig. Die einzige Gegend wo die Elektronik nicht gut funktioniert hat, und die Wahl anders ablaufen wird, war Mato Grosso, die dünn besiedelte Amazonas-Provinz mit all den von den verschiedenen Mücken übertragenen Krankheiten, wo auch gerade das GOL-Flugzeug abgestürzt war.

Am Abend gibt es als besonderes Zuckerl einen Schmachtfilm, der schon die ganze Zeit angekündigt wird, mit einem sehr schönen jungen Priester, der in Liebe verwickelt ist/wird? wer weiß, der Ausgang ist offen, also wer gewinnt, die Verführung in Person der Frau, oder Gott; das letzte Bild ist, wie er am Strand einer fliehenden Frau nachläuft und sie gerade erreicht. Natürlich werde ich mir das ansehen, zumindest solange ich’s aushalte. Vorher ist wieder eine Sendung, in der alles vorkommt, Ballettmädchen hinter schmachtenden Sängern, vorläufige Auszählungen der Wahlen in Sao Paolo, Interviews mit den PolitikerInnen, die nach den ersten Hochzählungen gute Chancen haben, und eine wieder sehr sehr tränenreiche religiöse - soll ich sagen Werbe? – Sendung. Alles wird von dem gleichen Mann im gleichen Raum vor dem gleichen Publikum moderiert und vom Publikum je mit rhythmischem Klatschen und Gejohle quittiert.

Die Wahlvorhersagen zeigen im Zeitverlauf einen starken Abstieg von Lula da Silva und einen steilen Aufstieg von Alckin, sodass am Sa abend die Differenz zwischen beiden nur mehr 46% gegen 43% ist. Noch ein Tag, so scheint es, und die Darstellung weiterer Korruptionsfälle, und Alckmin müsse Lula überholt haben. Obgleich die Amazonas-Region wegen der Probleme mit den dortigen Wahlmaschinen noch nicht ganz ausgezählt ist, scheint am Montagmorgen aber klar, dass der unsympathische Spitzbart Lula (hier werden überall meist nur die Vornamen gebraucht, also Lula) mit ca 49% der Stimmen wieder die stärkste Partei leitet. Er ist ein halber Analphabet, unterschreibt nur Schriftstücke, die er selbst nicht versteht, ist aber extrem korrupt und hat es geschafft, sich Milliarden über Milliarden Reals auf die Seite zu bringen. Man muss dabei bedenken, dass das Durchschnittseinkommen eines Arbeiters in Brasilien nach Roberto, dem anderen Posada-Besitzer, ungefähr monatlich 300 Real ist, also etwa 120 €. So ist es schon ein ziemliches Verbrechen, sich so ungeniert zu bedienen. Niemand versteht, dass er wieder gewählt wurde. Meine Vermutung, dass die Predigt in der Kirche am Morgen vor dem Wählen hier vielleicht geholfen habe, wird nicht bestätigt, Lula ist von der Arbeiterpartei, und zwar religiös wie alle, aber nicht prononciert. In Flo sind die Bergers wieder gewählt worden, nach Roberto sind sie gut, aber die anderen…, die natürlich auch wieder gewählt worden sind. Es ist merkwürdig, dass die Demokratie, im Medienzeitalter ja auch bei uns, eigentlich nicht funktioniert. Es gewinnt wer bekannt ist. Im Fernsehen zeigen sich die OppositionspolitikerInnen sehr enttäuscht und sie bedauern vor allem, dass alle möglichen Reformen und Pläne zur Bekämpfung der Korruption nun wieder auf der langen Bank liegen. Doch auch nach Auszählung der später eintreffenden Stimmen aus Mato Grosse und Amazonien hat Lula keine Mehrheit und es gelingt ihm nicht mit einer anderen Parte eine Regierung zu bilden. So muss am 31. 10. nochmals gewählt werden, und die Hoffnungen liegen auf dem von der Mittelschicht getragenen Alckmin. Man sieht inzwischen Aufschriften: „Lula, es ist genug“. Andere, auch Taxifahrer werben für Lula, und seine Wahltaktik ist nun, Alckmin müsse verhindert werden (er kann nicht gegen Korruption argumentieren). Maria Lourdes, eine Professorin aus Florianopolos meint, das Land sei einfach zu groß und zu divers, um einen Konsens zu erreichen. Die Armen wählen Lula, weil er sie gekauft hat: er macht Müttern das Wahlgeschenk von monatlich 15 Real monatlich, wenn sie ihr Kinder in die Schule schicken. Und für Menschen die gar nichts haben und wegen Analphabetismus nicht wissen, wie korrupt er ist, ist das genug, um ihn zu wählen.