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Leben, Natur, Komplexität in biologischer und künstlicher Evolution
Referat von Timo Schneider

Einleitung

Leben und Natur
.Leben
.Natur
.Leben und Natur aus der 
Sicht der Wissenschaft

Umsetzung einer 
»künstlichen Biologie«
.Merkmale des Lebens und 
mögliche Analogien des 
Künstlichen Lebens
.Gene
.Mutation
.Zellen
.Tod

Evolution, Umwelt 
und Komplexität
.Evolution und Umwelt 
im Computer
.Komplexität der digitalen 
Umwelt bis zur Nichtlinearität
.Chaos im Rechner

Wege zur Komplexität
.Komplexität durch 
Evolutionssprünge 
.Kambrische Explosion im 
digitalen Medium
.Adaption des Lebens
.Ökologische Innovation
.Lernen
.Emergentes Verhalten

Schlußfolgerung

Literaturnachweis
 

Evolution, Umwelt 
und Komplexität
Evolution und Umwelt im Computer

In der biologischen Evolution entstanden aus Aminosäuren Proteine und Enzyme, aus denen später Zellen hervorgingen, die sich schließlich zu multizellulären Lebewesen zusammenschlossen. Das ist ein Prozeß zunehmender Komplexität, bei dem vielschichtige, geordnete Strukturen wie der Mensch aus einfachen und ungeordneten Kohlenstoffverbindungen entstanden sind.
Das Ziel einer künstlichen Evolution ist das selbstständige Heranwachsen neuer Strukturen mit steigender, vergleichbarer  Komplexität innerhalb des Computermediums. Und das ohne dem Entwicklungsprozeß irgend welche Vorgaben, Beschränkungen, Konzepte oder Wunschresultate aufzuerlegen.

Sollte eine digitale Evolution auch nur ansatzweise ähnlich komplex wie die biologische Evolution werden können, dürften die dabei entstehenden Informationsprozesse unsere heutigen Vorstellungen von dem, was mit Computern möglich ist, bei weitem übersteigen.

Die Artificial Life-Forschung basiert auf der Prämisse, daß das Evolutionsprinzip theoretisch nicht allein auf das Kohlenstoffmedium beschränkt ist. Die digitale Evolution will sich jedoch – wie gesagt – die biologische Evolution nicht als Vorbild nehmen und damit schlicht simulieren. Vielmehr geht es darum, den Computer zu einer digitalen Umwelt zu machen, die mit geeigneten Lebewesen »geimpft« oder bevölkert und damit zum Schauplatz einer neuen Evolution wird.

Doch schon vom Wesen dieser Umwelt her gelten für die Evolution in der Artificial Life-Forschung ganz andere Gesetze als für die Evolution, wie sie hier auf der Erde stattfand und stattfindet: Die Physik der digitalen Umwelt besteht aus den logischen Verknüpfungen von Prozessor, nicht-euklidischem (= nicht räumlich) Speicherraum, Resourcenverteilung und Hardware-Anweisungen. Zeit und Raum gibt es im Computeruniversum streng genommen nicht so, daß sie sich elegant nachbilden ließen, ohne der digitalen Umwelt einfach nur eine Simulation unserer Realität und unseres Universums überzustülpen. Räumliche Entfernung ließe sich im Computermedium höchstens als Zeit darstellen, die zur Bewegung einer bestimmten Menge von Code zwischen zwei Speicheradressen benötigt wird (wie in Tierra). Es gibt ohne echte Masse weder Gravitation, noch Energie in Form von Teilchenbewegung.

Die Auswirkungen einer solchen grundsätzlich andersartigen Physik auf die Evolution sind nicht zu unterschätzen. Es ist fraglich, ob sie überhaupt Leben und Evolution so ermöglicht, daß wir es tatsächlich nicht einfach nur mit der Nachahmung irdischer (»vierdimensionaler«) Verhältnisse zu tun haben.
 

Komplexität der digitalen Umwelt bis zur Nichtlinearität

Der wichtigste Aspekt bei der Auslösung einer künstlichen Evolution im digitalen Computermedium wird der sog. »Verlust der Kontrolle« sein. Dieser von Ray geprägte Begriff entstand, um die Problematik zu beschreiben, daß ein Computer normalerweise nur das tut, wozu er angewiesen wird. Alan M. Turing formulierte diese Tatsache im »Einwand der Lady Lovelace«. In ihrem Bericht über die Analytische Maschine, dem ersten Computervorläufer, der von Charles Babbage bereits im 19. Jahrhundert konstruiert wurde, schreibt sie:

Die Analytische Maschine erhebt keinen Anspruch, irgend etwas zu erzeugen. Sie kann all das tun, wofür wir die entsprechenden Durchführungsbefehle geben können.
Eine Evolution darf aber nicht berechnet und kontrolliert ablaufen, ihre Entwicklung darf nicht darauf basieren, daß der Programmierer laufend Befehle eingibt.

Um die Vorhersagbarkeit eines »Evolutionsprogramms« auszuschalten, ist es also notwendig, daß das Programm sich selbstständig verändert und zunehmend komplex wird. Allein die Zunahme an Datenmengen kann jedoch nicht als evolutionäre Komplexitätszunahme gelten.

Die Komplexität, die erstrebt wird, muß ähnlich dynamisch und verzweigt sein wie die Komplexität des Lebens, die aus den Jahrmillionen der irdischen Evolution hervorgegangen ist. Sie ist notwendig, um zu einer Nichtlinearität der digitalen Evolution zu gelangen, die letztlich zum Verlust der Vorhersagbarkeit und zur Selbstständigkeit des Programmcodes führt.

Ein derartig geeignetes Programm würde hochkomplexe, dynamische Wachstumsbäume aus entstehenden Lebensformen aber auch »Naturphänomenen« ausbilden, die trotz ihrer Fundierung auf Berechnungen und einmal programmierten Computerbefehlen langfristig unvorhersagbar werden. 

Die biologische Umwelt mit ihrem Klima, dem Wetter oder auch den tektonischen Bewegungen der Erde stellt ein sog. »offenes System« dar, in dem Nichtlinearität und Chaos regieren. Geringste Veränderungen der Systemzustände können unvorhersagbare Konsequenzen haben. Das bekannteste Beispiel dafür ist der sog. »Schmetterlingseffekt« nach Edward N. Lorenz: Ein Schmetterling schlägt in Japan mit den Flügeln. Die unmerkliche Aufwirbelung der ihn umgebenden Luft entwickelt sich derartig chaotisch, das dadurch zuletzt in Nordamerika ein Hurrikan ausbricht.
Das Ausmaß an Komplexität ist kaum vorstellbar: Die Erde ist nicht nur von unzähligen Schmetterlingen, sondern auch noch von Milliarden anderer Lebensformen bevölkert. Hinzu kommt die Offenheit des Systems Erde: Die Atmosphäre ist hochgradig sensibel gegenüber kosmischen Phänomenen wie z.B. Veränderungen auf der Sonnenoberfläche oder Planetenkonstellationen, vom Mond ganz zu schweigen. Auch die Erdoberfläche ist keineswegs statisch, sondern in ständiger Bewegung und Reibung. 
Dieses chaotische, offene System der biologischen Umwelt und die Unvorhersagbarkeit von äußeren Einflüssen und ihren Konsequenzen erschaffen eine Komplexität, die weder berechen- noch vorhersagbar ist (siehe z.B. die täglichen Wetterberichte).

Chaos im Rechner

Um eine derartig hohe Komplexität wie die der biologischen Evolution zu erreichen, muß also auch die digitale Umwelt der Artificial Life-Forschung einen Komplexitätsgrad besitzen, der Nichtlinearität zumindest auf sehr lange Sicht ermöglicht. 
Erst dadurch entstehen unvorhersagbare und unwillkürliche Umweltbedingungen, die einen kontinuierlichen, dynamischen Selektionsdruck auf die darin lebenden Organismen ausüben, sie so zu ständiger Anpassung zwingen und die Komplexität des Lebens weiter erhöhen.

Die sog. »Neuronalen Netze« der Informatik sind in der Lage, Nichtlinearität programmiert hervorzubringen. Deshalb wird sich die Artificial Life-Forschung wohl auf diese Systeme konzentrieren müssen, wenn sie die digitale Evolution ernst nimmt.
Denn sie benötigt offensichtlich speziell modifizierte Computer. In diesen Rechnern können die Bedingungen der künstlichen Umwelt so angepasst werden, daß sich hinreichend viele biologische Aspekte angemessen damit umsetzen lassen.

Dabei erweist sich die Software jedoch als Hürde auf dem Weg zu komplexer, digitaler Evolution. Ihre Programmiersprache kann als die unterste Ebene des künstlichen Lebens verstanden werden. Sie ist damit vergleichbar mit Molekülen, die selbst keiner Evolution unterworfen sind, aber die Gegenstände des irdischen Lebens gemäß ebenfalls nicht evolutionärer physikalischer Gesetze bilden. Die Lebewesen von Tierra sind Maschinencodeprogramme. Ihr Code ist eine Abfolge von 0 und 1. Die möglichen Kombinationen von 0 und 1 sind der Tierra-Evolution unterworfen, nicht jedoch die 0 und die 1 selbst. Das Problem ist nun die Gestaltung einer geeigneten »genetischen Sprache«, also der Programmiersprache für Künstliches Leben und seine Umwelt. Sie muß äußerst flexibel sein in dem Sinne, daß sich mit ihr auch Lebewesen, Ereignisse und Umweltbedingungen realisieren lassen, die vom Programmierer noch nicht einmal zu erahnen sind, aber zugleich darf sie nicht umfangreich oder gar klobig werden: Sie muß mit so wenigen und so kurzen Befehlen wie nur möglich auskommen. Unglücklicherweise ließen sich diese beiden Bedingungen noch nicht miteinander vereinbaren. 
Die Zusammenhänge zwischen der Struktur der bisher verwendeten Sprachen und den jeweils entstehenden Evolutionsmustern (Gradualismus, Sprunghaftigkeit oder auch Stillstand der Entwicklung) sind ebenso noch nicht durchschaut. Auch haben Versuche mittels »Genetic Programming« eine geeignete Programmiersprache zu entwickeln, bislang noch keine optimale Sprache für die digitale Evolution hervorgebracht.


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"Artificial Life Forschung - Schnittstelle zwischen Informatik und Naturwissenschaften", PD Dr. Sigrid Schmitz
Institut für Informatik und Gesellschaft
Universität Freiburg, Sommersemester 2001