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Leben, Natur, Komplexität in biologischer und künstlicher Evolution
Referat von Timo Schneider

Einleitung

Leben und Natur
.Leben
.Natur
.Leben und Natur aus der 
Sicht der Wissenschaft

Umsetzung einer 
»künstlichen Biologie«
.Merkmale des Lebens und 
mögliche Analogien des 
Künstlichen Lebens
.Gene
.Mutation
.Zellen
.Tod

Evolution, Umwelt 
und Komplexität
.Evolution und Umwelt 
im Computer
.Komplexität der digitalen 
Umwelt bis zur Nichtlinearität
.Chaos im Rechner

Wege zur Komplexität
.Komplexität durch 
Evolutionssprünge 
.Kambrische Explosion im 
digitalen Medium
.Adaption des Lebens
.Ökologische Innovation
.Lernen
.Emergentes Verhalten

Schlußfolgerung

Literaturnachweis

 

Umsetzung einer 
»künstlichen Biologie«
Die Artificial Life-Forschung gilt als Disziplin, die biologische Prinzipien informationstechnologisch umsetzt. Das Ergebnis soll Künstliches Leben sein. Christopher G. Langton, einer der Initiatoren der ersten Artificial Life-Konferenzen, definiert diesen Begriff als »von Menschen geschaffene Systeme, welche einige Charakteristika natürlichen Lebens aufweisen«. [Kinn96; S.32]
Diese sehr vage Definition ist verständlich, betrachtet man, wie schwer es fällt das biologische Leben zu definieren, das der Artficial Life Forschung als das derzeitige Maß aller Dinge gilt.

Physische Ausprägungen des Künstlichen Lebens sind Genmanipulation, künstliche Befruchtung oder kurz »Biotechnologie«. Virtuelles Künstliches Leben kann in der Form von im Computer erschaffenem Leben auftreten, entweder als Programme oder Hardware-Systeme (Roboter). Im folgenden konzentriere ich mich auf Künstliches Leben als Computerprogramm, wobei Thomas Rays »Tierra« des öfteren als Beispiel dienen möge.
Ein Programm, das wie Tierra Künstliches Leben darstellt, ist ein informationsverarbeitendes, auf spezifischem In- und Output basierendes System, das mit seiner digitalen Umwelt gemäß interner Verhaltensregeln dynamisch interagiert. Diese Verhaltensregeln können entweder bereits programmiert und/oder aber durch Evolution des Programms hervorgebracht werden. (siehe auch emergentes Verhalten)

Thomas Ray weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Artficial Life-Forschung keineswegs biologisches Leben und seine Evolution simulieren will, sondern Künstliche Lebensformen hervorbringen will, die statt auf Kohlenstoff und Wasser auf Bits basieren. [Ray01]
Da jedoch unentschieden ist, was genau das Leben ausmacht, wird es zwangsläufig für die Artficial Life-Forschung notwendig sein, sich für grundlegende Merkmale an der Biologie und dem organischen Leben der Erde zu orientieren. Und das auch, wenn es vermutlich zur Schöpfung von ganz neuem Leben nicht ausreichend ist, nur dessen irdische Form zu kennen. Eine Alternative dazu zu finden, das ist nicht nur das Ziel der Astrobiologie, sondern auch der Artificial Life-Forschung.
Digitale Organismen müssen sich also mangels anderer Arten von Leben auf unabsehbare Zeit an biologischen Geschöpfen messen lassen, trotz der Tatsache, daß eine komplette, allgemein anerkannte Kriteriensammlung des biologischen Lebens noch nicht existiert.

Thomas Ray, einer der Vorreiter der Artificial Life-Forschung, bleibt dennoch optimistisch und sagt voraus, daß die künstlichen Lebensformen, die seine Wissenschaft eines Tages hervorbringen soll, andersartiger sein werden als das irdische und selbst das außerirdische Leben, das mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls auf Kohlenstoffverbindungen basieren wird. Jede Form von andersartigem Leben, egal ob außerirdisch oder digital, würde unsere Auffassung vom Lebensbegriff schließlich erweitern. [Ray01]
 

Merkmale des Lebens und mögliche Analogien des Künstlichen Lebens

In diesem Abschnitt möchte ich an vier kurzen Beispielen zeigen, wie einige biologische Prinzipien in der Artificial Life-Forschung umgesetzt wurden. Ob diese Umsetzungen jeweils gelungen sind, ist nicht weiter relevant: Künstliches Leben soll keine Computersimulation der biologischen Evolution sein. Fraglich bleibt aber, ob evolutionäres, dynamisches Leben auch ohne einige dieser Aspekte tatsächlich möglich ist.

Gene

Der kleinste, gemeinsame Nenner allen biologischen Lebens ist die DNS im Kern der Zelle(n). Nicht nur die Reproduktion, sondern die gesamte, physiologische Gestalt und Teile des Verhaltens eines Organismus basieren auf den Informationen, die im Genstrang gespeichert sind. Ganz klar ist, daß die biologistische Sicht des Genstrangs und seine Bedeutung für das Leben in der Artificial Life-Forschung sehr dominant ist: Hier sind die Gene der Bauplan nicht nur der Physiologie, sondern auch der Psychologie und Soziologie: Die Lebewesen in Rays Programm Tierra sind Maschinencodeprogramme, die Kopien von sich selbst im Arbeitsspeicher des Computers ablegen und sich dadurch vermehren. Ihr Programmcode ist das Analogon zu den Genen der Biologie. Doch die Bedeutung des Codes ist in Tierra eine andere: Er legt das Lebewesen, das ihn trägt, nicht nur fest, sondern er ist schon dieses Lebewesen. Die Tierra-Organismen sind im Grunde lebendige Genstränge und damit eher mit biologischen Viren vergleichbar, die zwischen lebendiger und toter Materie angesiedelt sind.
Diese Sichtweise der Gene ist sicherlich pragmatisch, ob sie aber langfristrig für echtes Künstliches Leben angemessen ist, bleibt abzuwarten.

Mutation

Mutationen, also Veränderungen des genetischen Erbguts, hervorgerufen durch äußere Einflüsse (Strahlung, Vergiftung) auf molekularer Ebene, sind ein wichtiger Bestandteil der biologischen Evolution. Sie sind für die Variation in der Generationenfolge verantwortlich, aus der sich – gemäß dem reinen Darwinismus – im Laufe der Entwicklung ein breites Spektrum unterschiedlichster Lebensformen entwickelt.
Dementsprechend gibt es auch in Tierra Mutationen, nur handelt es sich hier um zufällig veränderte Bits im Maschinencode eines digitalen Lebewesens (besser gesagt: eines Nachkommen). 
Viel wichtiger ist jedoch das sog. "crossing-over" für die Künstliche Evolution, auch in Tierra. Das Phänomen, bei dem sich die Genstrangteile zweier Individuen völlig neu miteinander kombinieren, spielt in Tierra eine im Vergleich zu Mutationen ("bit flips") übergeordnete Rolle. 

Zellen

Neben der DNS kann auch die Zelle als der Grundbaustein allen Lebens betrachtet werden. Zellen können autonom (Einzeller) oder im Verband (mehrzellige Organismen) leben, wo sie sich gemäß einer Arbeitsteilung jeweils auf bestimmte »Körperfunktionen« (z.B. Leber-, Nerven-, Hautzellen) spezialisieren. Diese Funktionen werden hauptsächlich durch in der Zelle produzierte Proteine (hochmolekulare Eiweiße) umgesetzt. Je nach Zellauftrag werden bestimmte Proteine benötigt (etwa 200000 verschiedene Proteintypen sind bekannt), die in der Zelle selbst gemäß den Informationen ihres DNS-Strangs zusammengesetzt werden. Neben ihrer Spezialaufgabe für den gesamten Organismus sorgt jede Zelle für ihre Selbsterhaltung, Fortpflanzung und ihren Energiehaushalt.
Die Zelle erweist sich damit als wesentlich komplexeres Gebilde als der Genstrang. Das Konzept der Zelle ist bisher auch noch nicht in der Artificial Life-Forschung umgesetzt worden.
Ob es auch Leben nach unserem Verständnis ohne diese kleinsten lebendigen Einheiten geben kann wird sich zeigen.

Tod

Der biologische Tod definiert sich dadurch, daß die offensichtlichen Merkmale des Lebens in einem Organismus aussetzen und das biologische Material des Lebewesens durch Verwesung vollständig an seine Umwelt überführt wird. Thomas Ray hat es sich mit der Umsetzung des Todes sehr einfach gemacht: Wenn ein Lebewesen in Tierra stirbt, dann wird sein Maschinencode aus dem Speicher gelöscht.
Es stellt sich hier die Frage, welche Bedeutung der Tod für das Leben hat. Der Maschinencode eines Tierra-Organismus verschwindet restlos, während jederzeit ein neuer Organismus durch die Kopierprozesse aus Bits und Bytes erschaffen werden kann. Im Gegensatz dazu verfügt das biologische Leben über zwar enorme, aber dennoch endlich viele Materiemengen. Der Tod schafft nicht nur Raum für andere Individuen, sondern er gibt auch biologisches Material wieder frei, aus dem neues Leben entstehen kann. 


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"Artificial Life Forschung - Schnittstelle zwischen Informatik und Naturwissenschaften", PD Dr. Sigrid Schmitz
Institut für Informatik und Gesellschaft
Universität Freiburg, Sommersemester 2001