Einleitung Leben und Natur
Umsetzung einer
Evolution, Umwelt
Wege zur Komplexität
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Die Evolution nach Darwin beruht auf den Prämissen, daß die
Speziesmerkmale variabel (=veränderlich) sind und es eine Überproduktion
an Nachkommen gibt. Von ihnen können nur diejenigen überleben,
die am besten an ihre Umwelt angepasst sind (survival of the fittest).
Ein Beispiel für einen derartigen evolutionären Sprung, in
dem das Leben offenbar aus »heiterem Himmel« revolutionäre
Neuerungen hervorbrachte, ist der Übergang zu geflügelten Insekten.
Es kann keinen fließenden, Jahrhunderte dauernden Übergang von
ungeflügelten Insekten zu fliegenden gegeben haben, weil die Hybridwesen
der Übergangsphase dann als Fossilien auffindbar sein müssten.
Aus diesen Eindrücken entsprang die 1972 von Neil Eldredge und Stephen Jay Gould entwickelte These der »sprunghaften Evolution« oder des »unterbrochenen Gleichgewichts«. Demnach werden Evolutionssprünge durch äußere, gravierende Einflüsse auf ein bis dahin stabiles und harmonisches Umweltsystem ausgelöst. Wenn sich die Umwelt und damit die Selektionsbedingungen radikal und plötzlich verändern, findet ein Bruch in der »Evolutionslinie« statt, aus dem dann nur die Arten hervorgehen, die sich schnell genug den neuen Bedingungen anpassen konnten, bzw. so wenig wie möglich von ihnen beeinflusst wurden. [Kinn96] Der Einschlag eines Kometen im Gebiet Yucatans, der laut zahlreichen Wissenschaftlern die Dinosaurier auslöschte und damit erst den Weg für die Herrschaft des Menschen über die Erde freimachte, kann als gutes Beispiel für einen gravierenden Einfluß genannt werden, der das natürliche Gleichgewicht ins Wanken bringt und einen Evolutionssprung auslöst. Kambrische Explosion im digitalen Medium Der größte Sprung in der Geschichte der Evolution ist jedoch
nicht das Aussterben der Riesenechsen, sondern die sog. »Kambrische
Explosion«.
Das digitale Analogon zur Kambrischen Explosion wäre der Übergang von seriellen zu parallelen Prozessen und selbstverständlich die volle Ausnutzung der sich daraus ergebenden Möglichkeiten für die Form digitalen Lebens. Parallele Prozesse würden in einer digitalen Evolution zu einer exponentiellen Komplexitätssteigerung wie nach der Kambrischen Explosion führen. Die Ausnutzung der Vorteile von parallelen Prozessen entspräche
der Arbeitsteilung innerhalb von Zellverbänden: Jeder Prozess würde
dem anderen in der grundlegenden Struktur und im Aufbau ähneln, jedoch
auf den digitalen Gesamtorganismus ausgerichtete Aufgaben übernehmen.
Und auch die Auslösung einer künstlichen Kambrischen Explosion
mit dem charakteristischen, plötzlichen Anstieg der Komplexität
ist noch nicht gelungen.
Wie bereits erwähnt sind Leben und Natur miteinander verflochten. Das lässt sich auch in der Artificial Life-Forschung wiederfinden: Die Anpassung digitaler Organismen an ihre digitale Umwelt geschieht auf zwei Ebenen, entweder im Programmcode selbst (»ökologische Innovation«) oder durch Lernvorgänge (»adaptives Verhalten«). Neuentwicklungen in der Gestalt des Programmcodes einer künstlichen Lebensform entstehen – neben der Selektion von Mutationen nach Umweltbedingungen – u.a. durch die kontinuierliche Interaktion von Organismen untereinander. Besonders die Interaktion unter dem Aspekt der Ausbeutung oder Abwehr anderer Lebensformen auf dem Weg zur Selbstbehauptung trägt dazu bei, daß auch digitale Organismen spezielle Eigenschaften und Merkmale ausbilden, die ihnen im Wettstreit mit anderen einen Vorteil verschaffen. Die Lebewesen werden dadurch, daß sie sich »gegenseitig
das Leben schwer oder leicht machen« und dabei auf ihren eigenen
Vorteil ausgerichtet sind, zu einem wichtigen Bestandteil ihrer eigenen
Umwelt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit »Optimierungen« des Codes. Sie entstehen weniger durch Interaktion denn durch passive Anpassung an die Bedingungen der Umwelt. So stellen sich im Laufe einer Tierra-Evolution bestimmten Arten von z.B. besonders kompaktem Maschinencode ein, die sich über die Selektionsläufe hin als optimal geformt unter den Umweltbedingungen Tierras erwiesen haben. Wenn es um Lernprozesse von Computerprogrammen geht, dann verbindet man damit generell die Disziplin der Künstlichen Intelligenz. Doch auch die Artificial Life-Forschung beschäftigt sich mit dem Lernen in ihrem Versuch, Künstliches Leben hervorzubringen. Die Beziehungen zur Künstlichen Intelligenz sind offensichtlich, auch wenn der Schwerpunkt im Künstlichen Leben auf dem Zusammenhang von Lernen und Verhalten liegt. Digitale Organismen müssen intelligent sein in dem Sinne, daß
sie ihre Wahrnehmung in ein angemessenes Verhalten umsetzen können.
Dabei dürfen Aktionen und Reaktionen nicht determiniert oder programmiert
sein. Künstliche Lebensformen müssen ihr Verhalten stets neu
anpassen und gegebenfalls total wandeln können, um sich in einer (tatsächlich)
dynamischen Umwelt selbsterhalten zu können.
Auch Thomas Rays Vorhersage über ein mögliches adaptives Verhalten der Organismen im Tierra-Net fällt unter den Begriff des Lernens in der Artificial Life-Forschung. Ray vermutet, daß sich die digitalen Organismen nach kurzer Zeit auf die Dynamik ihrer Umwelt eingestellt haben werden. Wenn die Tierra-Software auf Rechnern läuft, die über die ganze Welt verteilt und miteinander vernetzt sind, und nur dann auf die Resourcen des jeweiligen Rechners zugreift, wenn dieser gerade nicht benutzt wird, dann – so Rays hoffnungsvolle Prognose – werden die Tierra-Organismen sich am Ende den irdischen Tag- und Nachtzyklen anpassen: Sie wandern stündlich durch das Internet von Rechner zu Rechner, um stets auf der Seite der Erde zu bleiben, die der Sonne abgewandt ist, weil die Computer dort offensichtlich weniger intensiv genutzt werden als die auf der Tagesseite. Dementsprechend sind dann auf der Nachtseite unseres Planeten mehr Resourcen für die Tierra-Organismen verfügbar. Sie würden nicht verstehen, warum sie diese kontinuierliche Völkerwanderung betreiben, aber ihr adaptives Verhalten wird ihnen sicherlich einen gewissen Hauch von Lebendigkeit verleihen. [Ray03] Neben adaptivem Verhalten, daß durch Lernprozesse in der Lebenszeit
eines Individuums innerhalb seiner Umwelt erworben wird, gibt es noch das
sog. »emergente Verhalten«, das jedem Organismus bereits »in
die Wiege gelegt« ist.
Einprogrammiertes, emergentes Verhalten legt die Reaktion des Individuums
auf bestimmte Reize fest. Man kann hier von den Trieben und Instinkten
der biologischen Kreaturen sprechen.
Das Verhalten eines einzigen Individuums erschafft somit ein makroskopisches
Verhalten des ihn umgebenden Gesamtsystems. Eine Gruppe von Organismen
bringt ein Verhalten hervor, das allein aus den Merkmalen der einzelnen
Gruppenmitglieder nicht mehr vorhersagbar ist.
Nach dieser kurzen Übersicht über die Verhaltensformen sollte
deutlich werden, daß zum Begriff des Lebens, der sich als mit den
Begriff Natur und Umwelt untrennbar verbunden gezeigt hat, eigentlich auch
das Kriterium der Organisation von Lebensformen und ihr Verhalten hinzugefügt
werden sollte.
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