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Leben, Natur, Komplexität in biologischer und künstlicher Evolution
Referat von Timo Schneider

Einleitung

Leben und Natur
.Leben
.Natur
.Leben und Natur aus der 
Sicht der Wissenschaft

Umsetzung einer 
»künstlichen Biologie«
.Merkmale des Lebens und 
mögliche Analogien des 
Künstlichen Lebens
.Gene
.Mutation
.Zellen
.Tod

Evolution, Umwelt 
und Komplexität
.Evolution und Umwelt 
im Computer
.Komplexität der digitalen 
Umwelt bis zur Nichtlinearität
.Chaos im Rechner

Wege zur Komplexität
.Komplexität durch 
Evolutionssprünge 
.Kambrische Explosion im 
digitalen Medium
.Adaption des Lebens
.Ökologische Innovation
.Lernen
.Emergentes Verhalten

Schlußfolgerung

Literaturnachweis
 

Wege zur Komplexität
Komplexität durch Evolutionssprünge 

Die Evolution nach Darwin beruht auf den Prämissen, daß die Speziesmerkmale variabel (=veränderlich) sind und es eine Überproduktion an Nachkommen gibt. Von ihnen können nur diejenigen überleben, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind (survival of the fittest).
Reiner Darwinismus allein kann jedoch nicht als Erklärung für die gesamte Evolution gelten. So lassen sich sog. »Evolutionssprünge« nicht immer darwinistisch erklären.

Ein Beispiel für einen derartigen evolutionären Sprung, in dem das Leben offenbar aus »heiterem Himmel« revolutionäre Neuerungen hervorbrachte, ist der Übergang zu geflügelten Insekten. Es kann keinen fließenden, Jahrhunderte dauernden Übergang von ungeflügelten Insekten zu fliegenden gegeben haben, weil die Hybridwesen der Übergangsphase dann als Fossilien auffindbar sein müssten.
Und es lässt sich nicht bestreiten, daß die Flugfähigkeit eine äußerst komplexe und unter unzähligen Umstände Vorteile verschaffende Eigenschaft ist.

Aus diesen Eindrücken entsprang die 1972 von Neil Eldredge und Stephen Jay Gould entwickelte These der »sprunghaften Evolution« oder des »unterbrochenen Gleichgewichts«. Demnach werden Evolutionssprünge durch äußere, gravierende Einflüsse auf ein bis dahin stabiles und harmonisches Umweltsystem ausgelöst. Wenn sich die Umwelt und damit die Selektionsbedingungen radikal und plötzlich verändern, findet ein Bruch in der »Evolutionslinie« statt, aus dem dann nur die Arten hervorgehen, die sich schnell genug den neuen Bedingungen anpassen konnten, bzw. so wenig wie möglich von ihnen beeinflusst wurden. [Kinn96]

Der Einschlag eines Kometen im Gebiet Yucatans, der laut zahlreichen Wissenschaftlern die Dinosaurier auslöschte und damit erst den Weg für die Herrschaft des Menschen über die Erde freimachte, kann als gutes Beispiel für einen gravierenden Einfluß genannt werden, der das natürliche Gleichgewicht ins Wanken bringt und einen Evolutionssprung auslöst.

Kambrische Explosion im digitalen Medium

Der größte Sprung in der Geschichte der Evolution ist jedoch nicht das Aussterben der Riesenechsen, sondern die sog. »Kambrische Explosion«.
Während dieser Zeit, die nahezu am Anfang der Erdgeschichte steht, fand der evolutionäre Übergang von Ein- zu Vielzellern statt. Die damit entstehenden Möglichkeiten des Komplexitätswachstums und der Artenvielfalt haben erst zu dem breiten Spektrum an Lebensformen geführt, das wir heute kennen.

Das digitale Analogon zur Kambrischen Explosion wäre der Übergang von seriellen zu parallelen Prozessen und selbstverständlich die volle Ausnutzung der sich daraus ergebenden Möglichkeiten für die Form digitalen Lebens. Parallele Prozesse würden in einer digitalen Evolution zu einer exponentiellen Komplexitätssteigerung wie nach der Kambrischen Explosion führen.

Die Ausnutzung der Vorteile von parallelen Prozessen entspräche der Arbeitsteilung innerhalb von Zellverbänden: Jeder Prozess würde dem anderen in der grundlegenden Struktur und im Aufbau ähneln, jedoch auf den digitalen Gesamtorganismus ausgerichtete Aufgaben übernehmen.
Einen solchen Programmcode zu schreiben, der mehr als einige unterschiedliche Prozesse enthält, ist derzeit aber noch nicht gelungen, und damit stehen der Artificial Life-Forschung auch die ungeahnten Möglichkeiten von Parallelprozessen für digitales Leben noch nicht in ihrer Gänze zur Verfügung.

Und auch die Auslösung einer künstlichen Kambrischen Explosion mit dem charakteristischen, plötzlichen Anstieg der Komplexität ist noch nicht gelungen. 
Thomas Ray hofft, mit seinem Tierra-Net Projekt eine Kambrischer Explosion im Computermedium hervorbringen zu können. Er setzt darauf, daß die durch die weltweite Vernetzung von Tierra-Welten bereitgestellte Menge an Raum und Ressourcen die Umwelt der Organismen komplex genug macht, um durch einen ständigen Anpassungsdruck auch die Komplexität der Lebensformen über einen kritischen Punkt hinaus zu steigern. Die Tierra-Organismen haben es nicht mehr bloß mit ihrer Reproduktion zu tun, sondern auch die Reaktion auf Resourcenverhältnisse ihrer dynamischen Umwelt wird nun zum Selektionsfaktor. Die im Tierra-Net derartig erhöhten Anforderungen an das Leben und die Interaktion der Organismen mit ihresgleichen und ihrer Umwelt sollen eine »autokatalytische (selbstauslösende) Komplexitätssteigerung« erzwingen, so Rays Hoffnung. Die Evolution von Tierra würde sich dann völlig von dem abkoppeln, was Thomas Ray einst als Programmcode festlegte. [Ray03]

Adaption des Lebens

Wie bereits erwähnt sind Leben und Natur miteinander verflochten. Das lässt sich auch in der Artificial Life-Forschung wiederfinden: Die Anpassung digitaler Organismen an ihre digitale Umwelt geschieht auf zwei Ebenen, entweder im Programmcode selbst (»ökologische Innovation«) oder durch Lernvorgänge (»adaptives Verhalten«).

Ökologische Innovation

Neuentwicklungen in der Gestalt des Programmcodes einer künstlichen Lebensform entstehen – neben der Selektion von Mutationen nach Umweltbedingungen – u.a. durch die kontinuierliche Interaktion von Organismen untereinander. Besonders die Interaktion unter dem Aspekt der Ausbeutung oder Abwehr anderer Lebensformen auf dem Weg zur Selbstbehauptung trägt dazu bei, daß auch digitale Organismen spezielle Eigenschaften und Merkmale ausbilden, die ihnen im Wettstreit mit anderen einen Vorteil verschaffen.

Die Lebewesen werden dadurch, daß sie sich »gegenseitig das Leben schwer oder leicht machen« und dabei auf ihren eigenen Vorteil ausgerichtet sind, zu einem wichtigen Bestandteil ihrer eigenen Umwelt.
Rays Tierra-System hat an ökologischen Innovationen zum Beispiel Parasiten, Immunität, Hyperparasiten, Kooperation bei der Reproduktion usw. hervorgebracht. Allesamt sind sie mehr als bloße Überlebensstrategien: Sie gehören zur Gestalt des Lebewesens. Nur eine bestimmte Form seines Maschinencodes macht einen Tierra-Organismus zu einem Parasiten.

Ganz ähnlich verhält es sich mit »Optimierungen« des Codes. Sie entstehen weniger durch Interaktion denn durch passive Anpassung an die Bedingungen der Umwelt. So stellen sich im Laufe einer Tierra-Evolution bestimmten Arten von z.B. besonders kompaktem Maschinencode ein, die sich über die Selektionsläufe hin als optimal geformt unter den Umweltbedingungen Tierras erwiesen haben.

Lernen

Wenn es um Lernprozesse von Computerprogrammen geht, dann verbindet man damit generell die Disziplin der Künstlichen Intelligenz. Doch auch die Artificial Life-Forschung beschäftigt sich mit dem Lernen in ihrem Versuch, Künstliches Leben hervorzubringen. Die Beziehungen zur Künstlichen Intelligenz sind offensichtlich, auch wenn der Schwerpunkt im Künstlichen Leben auf dem Zusammenhang von Lernen und Verhalten liegt.

Digitale Organismen müssen intelligent sein in dem Sinne, daß sie ihre Wahrnehmung in ein angemessenes Verhalten umsetzen können. Dabei dürfen Aktionen und Reaktionen nicht determiniert oder programmiert sein. Künstliche Lebensformen müssen ihr Verhalten stets neu anpassen und gegebenfalls total wandeln können, um sich in einer (tatsächlich) dynamischen Umwelt selbsterhalten zu können.
Diejenigen Organismen, die das nicht schaffen, werden verdrängt, so daß im Laufe der Evolution hochgradig anpassungsfähige Lebensformen mit einem breiten Verhaltensspektrum entstehen. Das beste Beispiel dafür ist der Mensch als »Krone der Schöpfung«. Unsere Palette an möglichen erlernten Reaktionen und Interaktionen mit unserer Umwelt ist nahezu unüberschaubar.

Auch Thomas Rays Vorhersage über ein mögliches adaptives Verhalten der Organismen im Tierra-Net fällt unter den Begriff des Lernens in der Artificial Life-Forschung. Ray vermutet, daß sich die digitalen Organismen nach kurzer Zeit auf die Dynamik ihrer Umwelt eingestellt haben werden. Wenn die Tierra-Software auf Rechnern läuft, die über die ganze Welt verteilt und miteinander vernetzt sind, und nur dann auf die Resourcen des jeweiligen Rechners zugreift, wenn dieser gerade nicht benutzt wird, dann – so Rays hoffnungsvolle Prognose – werden die Tierra-Organismen sich am Ende den irdischen Tag- und Nachtzyklen anpassen: Sie wandern stündlich durch das Internet von Rechner zu Rechner, um stets auf der Seite der Erde zu bleiben, die der Sonne abgewandt ist, weil die Computer dort offensichtlich weniger intensiv genutzt werden als die auf der Tagesseite. Dementsprechend sind dann auf der Nachtseite unseres Planeten mehr Resourcen für die Tierra-Organismen verfügbar. Sie würden nicht verstehen, warum sie diese kontinuierliche Völkerwanderung betreiben, aber ihr adaptives Verhalten wird ihnen sicherlich einen gewissen Hauch von Lebendigkeit verleihen. [Ray03]

Emergentes Verhalten

Neben adaptivem Verhalten, daß durch Lernprozesse in der Lebenszeit eines Individuums innerhalb seiner Umwelt erworben wird, gibt es noch das sog. »emergente Verhalten«, das jedem Organismus bereits »in die Wiege gelegt« ist.
Obwohl das emergente Verhalten digitaler Organismen bei ihrer Schöpfung programmiert wurde und damit auf den ersten Blick vorhersagbar erscheint, führt es ebenfalls zu einer Komplexitätssteigerung einer Umwelt aus Organismen.

Einprogrammiertes, emergentes Verhalten legt die Reaktion des Individuums auf bestimmte Reize fest. Man kann hier von den Trieben und Instinkten der biologischen Kreaturen sprechen.
Tragen ausreichend viele Organismen ausreichend komplexes emergentes Verhalten in sich, entsteht aus der Interaktion unter ihnen eine steigende Komplexität der Gruppendynamik. Das anschauliche Beispiel dafür ist die »Laolawelle«, wie sie sich manchmal in Fußballstadien zeigt. In diesem Fall gibt es für jeden Zuschauer auf den Bänken jeweils nur eine »emergente« Verhaltensregel: »Wenn dein Nachbar aufsteht, dann stehst du auch auf und setzt dich hin wenn er sich hinsetzt.« Nun muß nur ein einziger Zuschauer aufstehen, um die berühmte Laolawelle auszulösen.

Das Verhalten eines einzigen Individuums erschafft somit ein makroskopisches Verhalten des ihn umgebenden Gesamtsystems. Eine Gruppe von Organismen bringt ein Verhalten hervor, das allein aus den Merkmalen der einzelnen Gruppenmitglieder nicht mehr vorhersagbar ist. 
Zudem produziert jede Gruppe eigene, neue Verhaltensmuster, je nachdem welche Individuen mit welchen emergenten Verhaltensregeln sie enthält.

Nach dieser kurzen Übersicht über die Verhaltensformen sollte deutlich werden, daß zum Begriff des Lebens, der sich als mit den Begriff Natur und Umwelt untrennbar verbunden gezeigt hat, eigentlich auch das Kriterium der Organisation von Lebensformen und ihr Verhalten hinzugefügt werden sollte.
Denn das »Lebendige« ist für uns intuitiv auch immer das »sich Bewegende« und das »Handelnde«. 


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"Artificial Life Forschung - Schnittstelle zwischen Informatik und Naturwissenschaften", PD Dr. Sigrid Schmitz
Institut für Informatik und Gesellschaft
Universität Freiburg, Sommersemester 2001